St. Vincent
„Gegen allen Widerspruch nahm ich Dienst bei einem Kaufmannsschiff (die Meery genannt). Kapitän Jung brachte mir einen Paß nach Westindien, auf die Insel Vincent.“
Engelhardt ist oft sehr wortkarg, schreibfaul. Immerhin nennt er uns den Namen des Schiffs, „Mary“. Im Schifffahrtsregister von Lloyds findet sich 1793 die Brigg „Mary“ unter dem Kommando von W. Young, ein zweimastiges Segelschiff mit Rahsegeln an beiden Masten.
Die „Mary“ verkehrt in diesem Jahr auf der direkten Route von England aus über den Atlantik in die Karibik, ohne den viel lukrativeren Umweg über Westafrika, wo billige englische Produkte gegen Afrikaner getauscht wurden, die in der Karibik und in Guyana mit gigantischen Gewinnen als Sklaven für die Plantagen verkauft wurden. Die Produkte der Plantagen – Baumwolle, Zuckerrohr, Kaffee – werden wiederum mit großem Gewinn nach England und Europa gebracht.
Das Ziel der Reise der „Mary“ ist die Insel St. Vincent, die Hauptinsel des heutigen Staats St. Vincent und die Grenadinen, etwa 300 km vor der Nordküste Südamerikas.
„Ich habe am Lower Shadwell den Liebhold getroffen, den Juden aus Bruchsal, der erzählt, dass du beim Metzger Huber deinen Abschied genommen hast. Was ist los?“
Wieder war der Bruder voller Zorn auf August.
„Ich habe angeheuert…“
„Du spinnst! Der Vater, Gott hab ihn selig!, er hatte recht! Du bist ein Spinner! Nie hätte er das erlaubt!“
„Aber du kannst mir nichts mehr sagen jetzt! Meine Schulden habe ich zurückbezahlt. Mit vielen Pfälzer Leberwürsten! Ich kann keine Wurst mehr sehen, ich will in die Welt hinaus! Weg aus diesem dirty hole!“
„Aber doch nicht gerade jetzt! Warte noch ein paar Monate! Wer weiß, was aus dem Krieg gegen die Franzosen noch wird? Wem sie noch alles den Kopf abhacken in Paris! Bleib hier!“
„Ich hab es dir doch gesagt. Ich habe den Kontrakt schon unterschrieben, ich bin jetzt Seemann, ich fahre in die Südsee!“
Nach der französischen Revolution fühlen sich die Fürstenhäuser Europas bedroht. Sie fürchten einen Umsturz, wie er in Frankreich stattgefunden hat. Preußen und Österreich bilden eine militärische Koalition, französische Adlige emigrieren in die angrenzenden Länder, im April 1792 beginnt der erste Koalitionskrieg. Ein knappes Jahr später stirbt der französische König Ludwig XVI. unter der Guillotine, ebenso seine Frau Marie Antoinette, und im Februar 1793 tritt England an der Seite der Koalition in den Krieg gegen Frankreich ein.
Engelhardt verdingt sich also kurz darauf auf einem der Schiffe, die regelmäßig in die Karibik, nach Westindien fahren. Der Güterverkehr über den Atlantik hat enorme Ausmaße angenommen, Zuckerrohr, Gewürze und zunehmend Kaffee aus den Kolonien in der Karibik und Sklaven aus Schwarzafrika in der umgekehrten Richtung spülen große Gewinne in die Kassen der Großhändler und der Fürsten. Mit den West India Docks entsteht wenig später eigens für diesen Handelszweig ein großes Hafengebiet im Osten Londons.
„Die erste Reise lief nicht so gut ab, als ich glaubte; die Ladung wurde halb in London eingeschifft, die andere Hälfte in Portsmouth. Unten in Plymouth Hafen wurde noch einmal Halt gemacht. Der Abfahrtstag ward mit 6 Pferden und 10 Stück Mauleseln im Schiff. Es ging insofern gut, bis unter die Linie, dann überfiel uns ein Sturm, daß alle Segel eingezogen, die Masten heruntergelassen werden mußten; die Wellen schlugen auf das Schiff, wo die Wasserfässer lagen, welche von der Strömung ins Meer geschleudert wurden; die Ringe in der Küche belten, einige Jungen aus dem Verdeck andre brechen.“
Engelhardts Sprache ist fremd für uns, gerade an Stellen wie dieser: „Die Ringe in der Küche belten“, was soll das heißen? Überträgt er hier die englische Redewendung „to ring a bell“, läuteten also die Glocken an Bord der „Mary“? Grimms Wörterbuch, zu Lebzeiten Engelhardts zusammengetragen, spricht davon, dass im Verb „bellen“ die „begriffe des spaltens, brechens und schallens in einander übertreten“. Außerdem wird dort die „bell“ oder „belle“ als „ein bestandtheil des schiffs, worüber die wörterbücher auskunft versagen“, bezeichnet.
Also nur ein lautes Geräusch aus der Küche, die Kesselringe kreischen? Und die Jungen? Werden die von Deck geweht, oder sind die seekrank und erbrechen sich?